Pokémon – Die Botschaft, die Kinder brauchen

Pokémon gehört zum Beliebtesten und Einträglichsten, was die Menschheit bis dato erfunden hat. Warum zieht es Kinder so sehr in seinen Bann? Womöglich zu einem bedeutenden Teil deshalb, weil Pokémon eine Geschichte erzählt, die für Kinder absolut zentral ist.

Was war das für ein Hype damals in der Grundschule. Die Anziehungskraft, die dieses Videospiel „Pokémon – Rote / Blaue Edition“ zur Jahrtausendwende auf mich und unzählige andere Kinder ausübte, war unvergleichlich. Ich klebte regelrecht am Gameboy, malte meine eigenen Pokémon, und wenn ich nach draussen ging, stellte ich mir gerne vor, die Natur sei bevölkert mit diesen faszinierenden Wesen.

Seit ich mich intensiv mit Geschichten beschäftige, ist mir häufig die Frage durch den Kopf gegangen, welche Geschichte Pokémon eigentlich erzählt, welche Botschaft symbolisch darin stecken könnte. Sie muss aus meiner Sicht beträchtlich zum Erfolg der Marke beigetragen haben, denn die mächtige Anziehungs- und Inspirationskraft dieser fiktiven Welt ist mit der Niedlichkeit von Pikachu allein nicht hinreichend erklärt. Schauen wir mal, was wir finden.

 

 

Eine lebendige Welt

Starten wir ein Pokémon-Spiel, werden wir in aller Regel von einem Professor begrüsst. In der ersten Generation der Spiele ist das Professor Eich.

„Hallo! Herzlich Willkommen in der Welt der POKéMON! Diese Welt wird von Wesen bewohnt, die man POKéMON nennt! Für manche Leute sind POKéMON Haustiere, andere tragen Kämpfe mit ihnen aus. Ich selbst… …habe mein Hobby zum Beruf gemacht und studiere POKéMON. […] Eine unglaubliche Reise in die Welt der POKéMON erwartet Dich! Eine Welt voller Wunder, Abenteuer und Geheimnisse! Kurz gesagt, ein Traum wird wahr!“

Sogleich springt bei vielen Menschen der Fantasie-Motor von selbst an: Diese Pokémon müssen die Tiere dieser Welt sein. Professoren studieren sie – es muss also wirklich viele Geheimnisse und viel Wissenswertes an ihnen geben. Was mag mir wohl begegnen, wenn ich hier über Wiesen und durch Wälder streife, was kreucht und fleucht hier wohl alles im Wasser, in Höhlen, in der Luft? Diese Tiere müssen sehr vielseitig sein, denn angeblich sind manche Haustiere, während andere im Kampf eingesetzt werden. Da, dieses Wesen hat ein Horn – gefährlich. Das könnte aufregend werden. Hier sehen wir starkes Worldbuilding ohne grossen Aufwand.

Im Anschluss werden wir im Spiel in unser Zimmer gesetzt. Doch da wollen wir nicht bleiben – wir wollen uns ins Abenteuer stürzen! Wir ziehen auf eigene Faust los, hinaus in das hohe Gras jenseits unseres Dorfes. Doch da werden wir von Professor Eich aufgehalten. Es sei zu gefährlich, einfach so ohne eigene Pokémon fortzugehen. So lassen wir uns zuerst vom erfahrenen Professor schulen und ausrüsten. Und das ist wundervoll.

Machet euch die Erde untertan

Wie will man am liebsten in die Welt entlassen werden? Zunächst möchte man unter den Fittichen der vorherigen Generation vorbereitet werden und in ihr stets einen Rückhalt haben. Unsere Mutter im Spiel schenkt uns eine Liebe und einen Schutz, in die wir im Spiel stets zurückkehren können, um unsere Kräfte wieder aufzufüllen. Professor Eich derweil gibt uns Wissen und eine Ausrüstung, mit der wir den Start selbst schaffen können. Und er gibt uns das vielleicht Wichtigste: Er ermutigt uns und entfacht in uns die Lust auf das grosse Abenteuer des Lebens. Er setzt sich nach seinem Lebenswerk zur Ruhe und gibt eine grosse Fackel an uns weiter, die wir mit Stolz tragen werden. Und er verspricht uns, dass wir mit jedem Kampf dort draussen stärker werden.

Und so ziehen wir hinaus in eine Welt, die so ist wie das Leben selbst: Es erwarten uns die verschiedensten Dinge, hier personifiziert in den Pokémon. Mal sind sie lustig, niedlich, harmlos. Mal sind sie bizarr, erstaunlich, rätselhaft. Mal sind sie unheimlich, gefährlich, böse. Und mal sind sie atemberaubend, mächtig, weltbewegend. Unser Auftrag ist es, sie alle kennenzulernen, unseren Erfahrungsschatz bis zum Rand zu füllen mit allem, was die Welt ausmacht. Und nicht nur das: Wir sollen diesen Erfahrungen etwas abgewinnen. Wir sollen sie einfangen, sie uns zu eigen machen – und lernen, ihr Potenzial zu nutzen, um im Leben kompetenter zu werden. So werden wir in dieser Welt zu einem Meister werden, der auf eigenen Beinen stehen kann, weil er Mut, Kraft und Weisheit in sich vereint hat.

 

Bild: Wizards of the Coast

Auf in den Kampf

Pokémon-Kämpfe sind gefährlich, wie das Leben und seine Herausforderungen. Wir können verwundet und besiegt werden, was uns Ressourcen kostet, und wir verlieren bei Niederlagen einen Teil unseres Fortschritts und müssen uns zum letzten sicheren Punkt zurückziehen. Doch wenn wir uns dem Kampf nicht stellen, werden wir nie vorankommen und werden nie erwerben, was es braucht, um vor den Gefahren der Welt keine Angst mehr haben zu müssen. Treten wir Gefahren entgegen, so erwerben wir Erfahrung (EP), lernen Neues dazu (Attacken), entfalten unser Potential (Entwicklungen). Genau wie im echten Leben.

Wir müssen dazu den Mut besitzen, klein anzufangen. Wir müssen uns dem ersten richtigen Felsbrocken in unserem Weg, dem Gesteins-Arenaleiter Rocko, mit einer ziemlich lächerlichen Ansammlung von Fähigkeiten und Erfahrungen entgegenstellen und ein paar Mal hart auf die Schnauze fallen, wenn wir es irgendwann schaffen wollen, ihn zu überwinden. Und das lohnt sich: Wir werden belohnt mit einer neuen Fähigkeit, die uns neue Wege erschliesst (Blitz zum Erhellen dunkler Orte), und grösserer Kraft (Angriffswerte unserer Pokémon steigen).

Balance, Kontrolle und Güte

Auf der Reise gibt es Raum für Individualität: Wir können uns unser eigenes Team zusammenstellen, mit unserer eigenen Strategie vorgehen. Zugleich müssen wir uns aber immer an den Realitäten der Welt orientieren und einsetzen, was tatsächlich funktioniert. Es gibt keine Stärke ohne Schwächen. Sind wir zu wenig vielseitig, werden uns unsere Schwachpunkte an manchen Herausforderungen scheitern lassen. Wie in der Welt müssen wir eine gewisse Balance entwickeln, wenn wir die höchste Chance haben wollen, verschiedene Herausforderungen zu bestehen. Wir müssen uns auf Bewährtes verlassen und zugleich immer wieder mal Neues ausprobieren.

Je mehr wir uns Herausforderungen stellen, desto mehr steigt unsere Kraft. Zugleich stehen wie in der Realität immer Besonnenheit und Kontrolle im Vordergrund: Stellen wir uns zu grossen Mächten mit ungenügender Vorbereitung entgegen oder haben wir zu wenig Kontrolle über die Mächte, die wir selbst entfesseln, werden wir Probleme bekommen. Wir müssen uns vornehmen, was schwer genug, aber nicht zu schwer ist, und unsere Kontrolle stets mit unserer Kraft mitverbessern. Die Kraft und Kompetenz, die wir als Menschen haben, sollte sein wie ein starkes Pokémon: Beeindruckend und nützlich, sicher verschlossen, griffbereit und kontrolliert einsetzbar.

Während unserer gesamten Reise werden wir zudem für Güte und Grosszügigkeit belohnt. Am Ende, nach dem grossen letzten Duell mit unserem Rivalen, erfahren wir von Professor Eich, dass unser Rivale mittlerweile zwar auch äusserst kompetent ist wie wir, aber dass ihm die Güte fehlt. Dadurch, dass wir beides in uns vereint haben, konnten wir zum Meister werden.

 

 

Genau, was Kinder hören müssen

Ich glaube, dass es zu einem gewichtigen Teil die hier beschriebenen Botschaften hinter der Geschichte und Welt von Pokémon sind, die mich und viele andere Kinder mehr in ihren Bann gezogen haben als das meiste andere Spielzeug. Denn sie erzählen das, was Kinder hören sollten: Die ältere Generation ist für dich da, bereitet dich vor und ermutigt dich, damit du dich in das grosse Abenteuer des Lebens stürzen kannst. Dort begegnest du vielen schönen, witzigen, atemberaubenden, gruseligen, schmerzhaften Erfahrungen. Erkunde sie alle, sammle sie und lerne daraus. So wirst du stärker und weiser werden und diese Welt meistern können. Werde ein Mensch, vor dem man Respekt hat, weil er zu Grossem fähig und zugleich gütig und grosszügig ist. Stürz dich ins Leben, denn es lohnt sich. Gibt es eine wichtigere Botschaft für Kinder als diese?

 

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