Auf dieser Seite publiziere ich einzelne Exemplare meiner Kurzgeschichten. Über Rückmeldungen dazu freue ich mich.
Der Mönch und die Kokosnuss
Einst kam ein Mönch zu seinem Meister und klagte ihm sein Leid: „Die Mönche von jenseits des Waldes reden nichts als Unsinn! Ich bin es leid, mit ihnen zu diskutieren.“
„Solch mühselige Gespräche schlagen auf das Gemüt“, sagte der Meister. „Lass uns darüber reden und dazu ein paar Früchte essen.“
Der Mönch holte einen Korb mit Früchten herbei. „Was hättet Ihr gerne, Meister?“
„Ich glaube, ich hätte gerne… eine Kokosnuss“, sagte der Meister.
„Gute Idee, Meister“, antwortete der Mönch und machte sich auf, einen Hammer zu holen, um die Frucht zu öffnen.
Als er wieder da war, fragte ihn der Meister: „Warum machen wir uns eigentlich die Mühe, einen Hammer zu holen und die Kokosnuss zu knacken?“
Der Mönch sah seinen Meister verwundert an. „Wir möchten das Fruchtfleisch und die Milch. Das ist uns den Aufwand wert.“
Der Meister nickte andächtig. „Schau: Was die Mönche von jenseits des Waldes sagen, mag für dich oft wie eine Kokosnuss sein: Hart, rau, oft auch nur mit wenig Fruchtfleisch und Milch. Doch wenn du Früchte liebst und deinen Horizont erweitern willst, dann knackst du die Schale und siehst hinein. Wenn du Weisheit liebst, dann suche auch in ungelenken, inakzeptabel formulierten Aussagen nach dem, was es daraus zu lernen gibt.“
Die Blaumeise und die Kohlmeise
In einem Garten gab es einmal zwei Meisennester: ein Blaumeisennest und ein Kohlmeisennest. In beiden Nestern brütete zur selben Zeit jeweils ein Vogelpaar. Als die Zeit kam, dass die Jungen schlüpfen sollten, schlüpfte in beiden Nestern nur ein einziges Ei.
Die Blaumeiseneltern waren bestürzt und beschlossen, ihrem einzigen verbliebenen Küken alle Liebe zu geben, die sie nur geben konnten. Sie waren sehr nachsichtig mit ihm. „Du bist perfekt, genau so, wie du bist“, sagten sie zu ihm, wieder und wieder. Auch die Kohlmeiseneltern waren fassungslos und beschlossen, ihr einziges verbliebenes Küken anzuspornen, wo sie nur konnten. Sie waren sehr streng mit ihm. „Du bist ein elender kleiner Haufen, werde besser!“, sagten sie wieder und wieder zu ihm. So wuchsen die Küken heran.
Als die beiden Jungmeisen gerade erwachsen geworden waren, suchten sie einmal im Garten alleine nach Nahrung. Da kam auf einmal eine Katze daher und schlich sich an sie heran.
„Schnell, flieg weg, Blaumeise!“, riefen die anderen Vögel im Garten aufgeregt aus den Bäumen und Büschen herab.
„Warum soll ich denn fliegen lernen?“, antwortete die Blaumeise. „Soll ich nicht bleiben, wie ich bin?“
„Schnell, flieg weg, Kohlmeise!“, riefen die Vögel auch der anderen Meise zu.
„Warum soll ich denn fliehen?“, fragte die Kohlmeise. „Mich wird ja niemand vermissen.“
Und so wurden sie beide von der Katze verschlungen.
Die Geschenke des Magiers
Es war einmal ein alter Magier, der hatte drei erwachsene Söhne. Sein jüngster Sohn war ein herzloser, leichtsinniger Mann, der andere ausnutzte und nur sein eigenes Vergnügen im Kopf hatte. Sein mittlerer Sohn hatte mehr Herz und Verstand, doch auch über sein Verhalten konnte sein Vater oft nur den Kopf schütteln. Der älteste Sohn jedoch war ein gütiger, weiser Mann geworden.
Als der alte Magier spürte, dass sein Leben sich langsam dem Ende zuneigte, bat er seine Söhne zu sich.
„Ich werde bald von euch gehen“, sagte er zu ihnen. „Bevor ich euch verlasse, möchte ich euch allen etwas schenken.“ Er ging zuerst auf den mittleren Sohn zu und drückte ihm einen verzauberten Ring in die Hand. Dann war der älteste, gütige Sohn an der Reihe, und diesem präsentierte er drei verschiedene verzauberte Gegenstände, zwischen denen er wählen durfte. Zu guter Letzt war der jüngste, böse Sohn an der Reihe. Da ging der alte Magier zu einer der Türen des Hauses und öffnete sie. Dahinter befand sich auf einmal nicht mehr wie sonst ein Zimmer, sondern eine endlos riesige Halle, in der sich eine unbeschreibliche Menge verzauberter Gegenstände türmte. Der jüngste Sohn konnte sein Glück kaum fassen, als er aus all diesen Dingen seine Wahl treffen durfte.
Nachdem die Söhne mit ihren Geschenken verschwunden waren, trat die Frau des Magiers zu ihm und fragte: „Warum hast du unserem jüngsten Sohn so einen grossen Dienst erwiesen? Ist er nicht der selbstsüchtigste, unvernünftigste von allen?“ „Habe ich ihm denn einen Dienst erwiesen?“, erwiderte der alte Magier. „Oder wird er alle Tage denken: ‚In jener Halle hätte ich das perfekte Geschenk finden können, doch das habe ich nicht‘?“
Die Geschichte von den Götterperlen
Einst fragte ein junger Mönch seinen Meister: „Meister, würdet Ihr Euch als weise bezeichnen?“
Der Meister lächelte. „Es könnte schon sein, dass ich über die eine oder andere Weisheit verfüge, aber ganz sicher bin ich mir da nicht.“
„Warum seid Ihr Euch nicht sicher?“, fragte der Mönch verwundert.
Da begann sein Meister, eine Geschichte zu erzählen.
„Es war einmal eine Bucht am Meer, in der war das Wasser glasklar und leuchtend blau und der Sand weiss wie Elfenbein. Legenden zufolge waren in dieser Bucht ganz besondere Perlen zu finden. Man erzählte sich, sie seien vom Gott des Meeres gesegnet und mit besonderen Kräften ausgestattet worden, die ihren Besitzern Glück bringen würden. Drei rastlose Schatzjäger hatten ihr Lager am Strand der Bucht aufgeschlagen und tauchten jeden Tag nach Perlen. Sie wurden auch fast jeden Tag fündig – doch es war nicht klar, wie zu bestimmen sein sollte, welche von den gefundenen Perlen Götterperlen waren.
Eines Tages tauchte einer der Schatzjäger mit einer Perle aus dem Wasser auf, und als er sie in die Sonne hielt, reflektierte sie gleissend das Licht und strahlte heller als jede andere, die er bisher gefunden hatte. ‚Ich habe eine Götterperle gefunden!‘, rief er voller Ekstase aus.
Die anderen beiden Schatzjäger kamen zu ihm hergerannt, um einen Blick auf die Perle zu erhaschen. ‚Bist du sicher, dass das eine Götterperle ist?!‘, fragten sie ihn aufgeregt.
‚Ja, ich bin völlig sicher!‘, rief der Taucher aus. ‚Egal, was ihr mir erzählt – das ist todsicher ein gesegnetes, magisches Geschenk des Himmels!‘
Kaum hatten diese Worte seine Lippen verlassen, hörte die Perle auf einmal auf, zu leuchten, und sah plötzlich aus wie jede andere Perle, die sie bisher gefunden hatten.
‚Nein, meine Götterperle!‘, schrie der Taucher panisch und schüttelte die Perle, um sie wieder zum Leuchten zu bringen, doch es war vergebens.
Am folgenden Tag kam einer der anderen Schatzjäger mit einer Perle an den Strand. Während er sich mit ihr dem Lager näherte, fiel ihm auf, dass sie Kratzer hatte. Doch je länger er die Kratzer anschaute, desto mehr erschienen sie ihm wie Muster. Gewiss waren es Inschriften, die der Gott des Meeres angebracht hatte.
‚Ich habe eine Götterperle!‘, rief der Taucher.
Schnell kamen die anderen beiden Schatzjäger herbei und schauten sich den Fund an. ‚Denkst du, das muss auf jeden Fall eine Götterperle sein?!‘, fragten sie ihn gespannt.
‚Gar keine Frage, ich bin absolut sicher‘, verkündete der Taucher stolz. ‚Ich packe meine Sachen, meine Suche ist beendet!‘
In diesem Moment begannen die Verzierungen zu verblassen, und auf einmal sah die Perle aus wie jede andere, die sie bisher aus dem Wasser geholt hatten.
‚Nein, mein Glücksbringer!‘, schrie der Taucher entsetzt, fiel klagend auf die Knie und rieb an der Oberfläche der Perle, um die Verzierungen wieder zum Vorschein zu bringen, doch es war vergebens.
Noch einen Tag später brachte der dritte Schatzjäger eine Perle zum Lager. Er wollte sie gerade zu seinen anderen Fundstücken legen, da hielten ihn seine Kumpanen auf. ‚Warte doch mal, lass sehen!‘, riefen sie. Der Taucher öffnete seine Hand und zeigte ihnen eine wundersam in verschiedenen Farben leuchtende Perle, deren Oberfläche voller mystisch anmutender Muster war. Seine Kumpanen waren wie hypnotisiert. ‚Das muss ganz, ganz sicher eine Götterperle sein!‘, rief der eine aus.
‚Genau!‘, pflichtete der andere aufgeregt bei. ‚Du bist dir doch sicher, oder?!‘
Der Taucher zuckte mit den Achseln. ‚Sicher bin ich nicht‘, meinte er. ‚Es könnte schon sein, aber sicher wissen werde ich es vielleicht nie.‘
Er verstaute die Perle bei seinen anderen Fundstücken und machte sich wieder auf ins Wasser.“
Der Meister hielt kurz inne. „Weisst du, mein Junge“, sagte er dann, „Mit der Weisheit ist es wie mit diesen Götterperlen. In dem Moment, in dem wir völlig sicher sind, dass wir sie gefunden haben, und uns nicht mehr davon abbringen lassen, lässt unsere Weisheit nach. Wir müssen die Haltung, die wir einnehmen, und die Ideen, auf die wir kommen, mit lockerem Griff mit uns tragen und sehen, ob sie uns Glück bringen, ob sie im echten Leben tragfähig sind. Das kann uns Hinweise darauf geben, ob es sich dabei vielleicht um Weisheiten handelt. Doch wenn wir nicht mehr prüfen, nicht mehr suchen, verlieren wir an Weisheit.“
Der beste Mensch von Zhēnlĭ
Zihao kam schnellen Schrittes ins Haus. Er schlug die Holztüre hinter sich zu, dass es krachte und klapperte. Ning sah von dem Papyrus auf, der vor ihm lag. „Was ist denn nun schon wieder los, Bruder?“, wollte er wissen.
Zihao seufzte tief. „Ich weiss einfach nicht, was ich falsch mache.“ Er liess sich auf die Holzbank an der Wand fallen, stützte seine Ellbogen auf den Knien und dann sein Gesicht auf seinen Handflächen ab. „Die Mengyaos haben mir vertraut, sie haben mir so viel Geld gegeben, und ich war mir so sicher, dass ich diesmal gute Arbeiter gefunden habe, die rechtzeitig ein gutes Haus errichten.“
Ning hatte wieder angefangen, zu lesen, hörte aber mit einem Ohr zu. Dann warf er seinem Bruder einen Seitenblick zu. „Lass mich raten: Diesmal haben sie nicht nur die Arbeit nicht zu Ende gebracht, sie sind auch noch mit dem übrigen Geld abgehauen.“
Zihao sah Ning erstaunt an. „Woher hast du das gewusst?“
Ning setzte ein überlegenes Lächeln auf und widmete sich wieder seiner Lektüre. „Ach, das ist nun mal ziemlich profitabel für Arbeiter hier in Zhēnlĭ. Warum sollten sie es nicht tun?“
Zihao schnaubte. „Was weisst du schon von all dem. Seit du lesen kannst, sitzt du immer nur hier drin und studierst irgendwelche Schriftstücke, tagein, tagaus. Was liest du jetzt schon wieder?“ Zihao beugte sich vor und streckte seinen Kopf aus, um auf den Papyrus spähen zu können. „Die Ungerechtigkeit dieser Welt?“
Ning erschrak, nahm das Schriftstück hastig in die Hand und drückte es gegen seine Brust. „Ich bin nicht der, der mit einer bescheuerten Idee nach der anderen die Leute enttäuscht und um ihr hart verdientes Geld bringt“, gab er mit finsterer Miene zurück.
Zihao schüttelte den Kopf. Er erhob sich und ging wieder nach draussen. Er trat vor das Haus der Brüder und blickte zwischen den Holzhäusern mit ihren dunklen Dächern hindurch auf die endlosen Wiesen, die das Dorf umgaben. Ein Regentropfen traf seine Schulter. Zihao sah nach oben, und mehr und mehr Tropfen begannen, herunterzufallen. Er sah noch einmal in die Ferne hinaus, atmete tief durch und ging dann wieder zurück in das Haus.
Schritt für Schritt ging der Wanderer auf dem erdigen Weg voran. Seine Schritte waren so gleichmässig wie ein Uhrwerk, im Zusammenspiel mit dem Stab aus rötlichem Holz, den seine rechte Hand umschloss. Seine Atmung war langsam und bedächtig. Mit steinernem Blick sah er voraus auf den von Pfützen gesäumten Weg, der vor ihm lag. Der dunkelbraune Pfad zog sich geradeaus durch eine weite, tiefgrüne Wiese, die sich zu allen Seiten bis zum Horizont erstreckte, und die noch feucht war vom Regen. Ein hoher Berg mit schneebedecktem Gipfel ragte am Horizont in den von lila Wolken bedeckten Himmel. Zwischen dem Wanderer und dem Berg erhob sich aus der Landschaft ein nicht besonders hohes, flaches und breites Plateau. Auf dem Plateau standen viele Häuser und Hütten aus Holz. Sie waren umgeben von einem Zaun, der aus Baumstämmen gefertigt worden war. Zwischen den Häusern gingen Menschen umher. Der Wanderer blickte ihnen stumm entgegen, während er sich Zhēnlĭ näherte.
Als er durch das Tor des Dorfes stapfte, trafen ihn viele Blicke. Stumm und mit fokussiertem Blick ging er an allen Leuten vorbei, die stehen blieben, ihre Arbeiten unterbrachen und ihn atemlos musterten. Kinder hörten auf zu spielen und sahen zu ihm auf. Werbende Händler und quasselnde Damen verstummten und hefteten ihren Blick an den Fremden. Alle starrten auf seine braunen Gewänder, seinen breiten Hut, der nur wenig Tageslicht auf sein faltiges Gesicht fallen liess und vom Regen noch nass war, und den grossen Beutel, den er auf dem Rücken trug. Ohne nach links oder rechts zu sehen, durchquerte er das Dorf. Die Kinder liessen ihre Spielsachen auf dem Boden liegen und rannten ihm hinterher. Die Händler liessen ihre Waren zurück, die Arbeiter legten die Werkzeuge nieder. Zihao und Ning hörten in ihrem Haus, dass draussen eine grosse Menge von Menschen vorbeiging, und kamen heraus. Schnell schloss sich Zihao den Leuten an und stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, wer der Menge vorausging. Ning blieb stehen. Zihao drehte sich zu ihm um und winkte ihn energisch herbei. Ning verdrehte die Augen, bevor auch er sich in Bewegung setzte.
In der Mitte des Dorfplatzes im Zentrum von Zhēnlĭ blieb der Fremde stehen. Es dauerte nicht lange, da war das ganze Dorf auf dem Platz zu allen Seiten um ihn herum versammelt und sah schweigend mit ernster Miene zu ihm. Der Wanderer liess seinen Blick über die Leute schweifen. Dann holte er Luft, um zu sprechen. „Ich bin gekommen, um den besten Menschen dieses Dorfes kennenzulernen.“ Seine Stimme hallte tief und voll, laut und fest über die Köpfe der Leute hinweg. „Sagt mir, wer der beste Mensch von Zhēnlĭ ist.“
Die Leute sahen sich fragend um. Gemurmel begann, sich breitzumachen. Zihao sah den Wanderer mit vor Staunen geöffnetem Mund an, Ning begutachtete das Treiben in der Menge mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Meine Tochter ist der beste Mensch in diesem Dorf!“, rief da eine Frau und drängte sich in den Kreis zu dem Wanderer. Sie schob eine junge Frau vor sich her, die den Wanderer nett anlächelte. „Meine Tochter Mingzhu ist ein Segen für alle Menschen in ihrem Leben, seit sie auf der Welt ist.“
„Unsinn!“, rief da ein junger Mann aus der Menge mit zorniger Stimme. „Sie hat mir falsche Versprechungen gemacht, mir das Herz gebrochen!“
Das Gemurmel unter den Leuten wurde lauter, während die Frau ihre Tochter wieder in die Menge zurückschob.
Wieder drängte sich jemand in den Kreis, diesmal ein älterer Mann. „Ich bin Jianyu, und ich würde sagen, ich bin ein guter Mensch hier im Dorf“, sagte er zu dem Wanderer. „Mein ganzes Leben habe ich als Händler in den Dienst unserer Gemeinschaft gestellt.“
„Halt dein Maul!“, schrie da jemand. „Du hast mich im Stich gelassen, als ich deine Dienste am dringendsten brauchte!“
„Und weisst du nicht mehr, als du mir einmal völlig unbrauchbares Werkzeug verkauft hast?“, stimmte jemand anderes mit ein.
Der alte Mann senkte den Kopf, drehte sich um und verschwand wieder in der Menge.
Ning schüttelte den Kopf. „Also solche Sachen wie diese zwei hab ich noch nie gemacht. Wirklich überhaupt nie.“
Zihao sah überrascht zu seinem Bruder. „Dann melde dich doch“, sagte er und sah wieder gespannt zu dem Wanderer.
Ning sah seinen Bruder an, dann ebenfalls den Wanderer. Eine Weile lang meldete sich niemand mehr. Ungeduldig sahen sich die Leute um.
„Du hast deinen Bruder gehört, melde dich doch!“, sagte da eine Frau schräg hinter Ning und schob ihn nach vorn. Ning zuckte zusammen und sah sich irritiert nach der Frau um. Weitere Leute begannen, ihn nach vorn zu schieben. „Jemand muss sich melden, los, geh!“ „Wir müssen jemanden finden, also hopp!“ „Mal sehen, was er zu dir sagt!“ Die Leute schoben ihn vorwärts durch die Menge. Dann stolperte Ning zu dem Wanderer in den Kreis, der sich ihm interessiert zuwandte. „Wie ist dein Name?“
„Also, ich bin Ning, und ich bin… also, ich habe sehr wenig falsch gemacht in meinem Leben, würde ich sagen.“
Der Wanderer stand regungslos wie ein Fels da und sah Ning mit einem durchdringenden Blick aus seinen dunklen Augen an. Dann löste er seinen Blick von ihm und schaute auf die Leute.
„Ning ist ein netter Junge, denke ich“, sagte jemand.
„Ja, also mir hat er nie etwas getan“, ergänzte jemand anderes.
„Ich habe noch nie davon gehört, dass er irgendjemandem etwas angetan hätte“, rief noch jemand.
Der Wanderer lauschte andächtig den Wortmeldungen. Er schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder und wandte seinen Kopf zu Ning. „Nun denn, Ning. Es scheint, als würden dich deine Mitmenschen zum besten Menschen von Zhēnlĭ erwählen. Bist du das?“
Der Wanderer hob den Kopf und kuckte ringsum zu den Leuten. Kurz blieb es still.
„Ja“, sagten dann einige. „Ja, ich denke schon.“ „Ja, warum nicht.“
Ning sah sich um und lächelte schüchtern. „Ähm, nun ja, ich denke, das kann schon sein.“
Der Wanderer nickte einmal tief und andächtig. „In diesem Fall, Ning, will ich dich beschenken. Mit ganz besonderen Dingen, die nicht von dieser Welt stammen.“ Der Wanderer griff über seine Schulter und stellte seinen grossen Beutel vor sich auf den Boden. Seinen Stab legte er daneben ab. Gebannt starrten alle auf das Behältnis. Der Wanderer öffnete den Beutel, griff hinein und zog einen Umhang hervor. Ein Raunen ging durch die Menge. Der Umhang war leuchtend rot und mit goldenen Schriftzeichen und kunstvollen Mustern bestickt, die betörend schimmerten. Der Wanderer ging mit dem Umhang zu Ning hinüber und legte in Zihaos Bruder an. „Der Umhang Yǒngqì, dein erstes Geschenk.“
Staunend sah Ning auf den Umhang, der seine Schulter bedeckte, und strich mit der linken Hand darüber.
Der Wanderer kehrte zu seinem Beutel zurück, griff abermals hinein und holte einen Ring hervor. Es war ein Silberring, auf dem ein rot glitzernder Stein sass. Mit offenen Mündern starrten alle auf das Schmuckstück. Der Wanderer trat an Ning heran und steckte den Ring an den Ringfinger von Nings rechter Hand. „Der Ring Qínmiǎn, dein zweites Geschenk.“ Er sah Ning ins Gesicht. Dann wandte er sich um, ging zu seinem Beutel zurück und hob seinen Stab von der Erde auf. Er näherte sich wieder Ning und hielt ihm dann den Stab hin. Ning zögerte, bevor er unsicher seine Hand ausstreckte und den Stab annahm.
„Der Stab Zérèn Xin, dein drittes und letztes Geschenk“, erklärte der Wanderer. Er sah wieder zu den Leuten. „Ich habe euren besten Menschen beschenkt. Dies wird euch ein Segen sein. Auf Wiedersehen.“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, kam ein heftiger Wind auf. Die Haare und Kleider der Leute flatterten, die Häuser knarrten. Erschrocken sahen die Leute zum Himmel. Eine Wolke, die auf Bodenhöhe über der Landschaft dahinschwebte, verschlang das Dorf, und in dem dichten Nebel konnte niemand mehr weiter sehen, als er seine Hand ausstrecken konnte. So schnell, wie der Nebel gekommen war, so schnell verzog er sich wieder, und der Wind klang ab. In der Mitte der Menge auf dem Dorfplatz von Zhēnlĭ war Ning nun plötzlich allein, mit seinem leuchtend roten Umhang, seinem rot glitzernden Ring und dem rötlichen Holzstab.
Einige Jahre waren vergangen, seit Ning seine Geschenke erhalten hatte. Nun ging er eilig durch die leeren Gassen von Zhēnlĭ, mit wütendem Gesichtsausdruck. Er näherte sich einem prunkvollen, mehrstöckigen Gebäude aus schwarzem Holz mit rot bemalten Säulen und trat ein. An den Wänden hingen riesige Gemälde, die Ning im heroischen Kampf zeigten, triumphierend über Gegner und Monster. Am Ende des Raums befand sich ein goldener Thron. Daneben stand ein ganz in schwarz gekleideter, grosser und muskulöser Mann, der seinen Blick sofort auf Ning richtete. „Oh Grossmeister Ning, wie kann ich Euch behilflich sein?“
„Die Bauarbeiten kommen nicht voran“, fauchte Ning im Vorbeigehen. „Lass die Rationen halbieren und die Zielvorgaben nochmals verdoppeln.“ Ning stieg die Treppen des Gebäudes hinauf bis ganz nach oben, wo er von seiner luxuriösen Dachterrasse aus auf Zhēnlĭ hinabblicken konnte. Er sah das leere Dorf, in dem nur wenige abgemagerte alte Leute umherschlichen. Hinter der alten Begrenzung des Dorfes begann die Baustelle. Rund um Zhēnlĭ herum war nur noch Braun zu sehen: Braune Erde, braunes Holz und unzählige braungebrannte Menschen, die mageren, erschöpften Bewohner Zhēnlĭs, deren kümmerliche Kleidung von der schweisstreibenden Arbeit voller braunem Dreck war. Abwechslung in der Umgebung boten nur die grauen Steinblöcke, an denen gemeisselt wurde. Missmutig überblickte Ning alles und tappte unruhig mit dem Fuss auf den Boden. Der schwarz gekleidete Mann trat neben ihn. „Euer neues Zhēnlĭ wird unbeschreiblich werden, Meister“, meinte er. „Diese Gebäude und Statuen zu eurer Ehre werden mit nichts zu vergleichen sein. Ich werde eure Massnahmen wie immer sogleich umsetzen, und gewiss werden sie Wirkung zeigen.“
Ning antwortete nicht, er würdigte seinen Diener keines Blickes. Stattdessen richtete er seinen Blick zu den Käfigen neben der Baustelle. „Die Gefängnisse sind zu leer“, sagte er. „Es gibt auf jeden Fall deutlich mehr verräterische, schlechte Menschen. Ich will, dass bis Monatsende alle Gefängisse voll sind. Und dann wird das Nächste gebaut.“
„Ganz wie Ihr wünscht, mein Meister.“
Zihao sass regungslos in einer der Ecken des Käfigs. Sein Blick schweifte über die Narben an seinen Armen und seinem Oberkörper. Er hatte schon sehr lange nicht mehr geweint, obwohl ihm danach zumute war – er konnte es nicht mehr. Der alte Jianyu trat an ihn heran. „Die Rationen gehen wieder zurück, und die Anforderungen weiter hoch“, erzählte der Alte. „Sie haben es den Arbeitern gerade verkündigt.“
In diesem Moment kamen ein paar von Nings Aufsehern mit einem Gefangenen an, öffneten die Käfigtür und stiessen den Arbeiter hinein, bevor sie die Tür wieder schlossen.
„Ja genau, sperrt immer mehr ein, sperrt sie alle ein“, knurrte Zihao. „Will Ning nun, dass gebaut wird, oder sind wir ihm jetzt selbst dafür zu schlecht?“
„Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht“, gab Jianyu zu.
„Ich habe vor allem keine Ahnung, was in diesem Wanderer vorging“, sagte Zihao voller Wut. „Geschenke für den besten Menschen von Zhēnlĭ – und jetzt sind wir hier. Was zum Teufel sollte das?“
„Das fragen wir uns alle, Zihao“, entgegnete Jianyu und setzte sich ächzend neben Zihao auf die Erde. „Vergiss nicht, dass du alles getan hast, was du konntest. Dein Kampf für die Freiheit war mehr als ehrenhaft, er war heldenhaft, mein Junge. Du hast dich mit allem für uns eingesetzt und gegen deinen Bruder gestemmt, was du hattest.“
Die Soldaten stiessen zwei weitere Gefangene in den Käfig. Allmählich wurde es eng.
Eines Tages sass Ning auf seinem goldenen Thron, ass Früchte von der silbernen Platte, die ihm sein Diener hinhielt, und sah sich selbstgefällig seinen Thronsaal mit seinen Gemälden darin an. Da bemerkte er auf einmal ein leises Pfeifen von draussen. Aufgeschreckt hob er den Kopf und lauschte. Das Pfeifen wurde lauter und lauter. Sein Palast erzitterte. Ein heftiger Wind blies durch Zhēnlĭ. Der Wind blies eine Wolke in das Dorf hinein, und ein Nebel umschloss alle Arbeiter und Gefangenen draussen auf der Baustelle und alle Häuser, einschliesslich des Palastes von Ning. Der Wind klang ab, der Nebel lichtete sich schnell. Eine gespenstische Stille lag auf Zhēnlĭ. Angestrengt lauschend und irritiert sah Ning zur Tür seines Palastes. Er hörte Schritte von draussen. Knarrend öffnete sich die Tür. Als Erstes wurde der breite Hut sichtbar, der durch die Tür kam, dann trat der Wanderer ganz in den Thronsaal und kam mit seinen festen, gleichförmigen Schritten auf Ning zu. Der Meister verharrte regungslos auf seinem Thron. Der Wanderer blieb einige Schritte von Ning entfernt vor den Treppenstufen unterhalb des Throns stehen. Er richtete seinen Blick direkt auf den Herrscher. „Ich wollte nach dem besten Menschen von Zhēnlĭ sehen“, erklärte er laut und klar, dass es durch den Palast hallte.
Ning funkelte den Besucher böse an. „Er sitzt vor dir“, zischte er. „Was willst du?“
Der Wanderer bewegte sich nicht ein kleines bisschen. Dann holte er Luft. „Es könne schon sein, sagtest du damals. Dass du der beste Mensch hier bist, Ning. Deine Mitmenschen konnten sich an keine Verfehlungen deinerseits erinnern. Respektabel.“
Ning starrte den Wanderer misstrauisch an. Er sagte nichts.
„Ich frage mich nur, warum du dir nie etwas hattest zu Schulden kommen lassen. Weisst du, warum es so war?“
„Weil ich ein guter Mensch bin, ein ehrenwerter Mann, ein Held!“, schoss es aus Ning heraus.
Der Wanderer lächelte kurz. „Mit Verlaub, ich habe mir dein neues Zhēnlĭ angesehen, und ich muss sagen: Da irrst du dich.“ Kurz schwieg er. Dann hob er seinen rechten Arm über seinen Kopf. Alarmiert riss Ning die Augen auf. Mit einem Mal liess der Wanderer seine Hand über seinen Kopf hinweg nach hinten schnellen. Da riss sich auf einmal der rote Umhang von Nings Hals los und liess seinen Träger vornüber vom Thron fallen. Der Umhang flog zum Wanderer hinüber und verschwand wie von Zauberhand in dessen Beutel. Im selben Moment löste sich auch der rot glitzernde Ring von Nings rechter Hand, raste durch die Luft zum Beutel des Wanderers und verschwand darin. Und zugleich entglitt der rötliche Stab Nings rechter Hand, flog davon und wurde von dem Wanderer mühelos mit der rechten Hand aufgefangen. Ning schrie auf, rollte und fiel über die Treppenstufen hinab, die zu seinem Thron hinaufführten, und krachte zu den Füssen des Wanderers auf den Boden, wo er ächzend liegenblieb. Der Diener setzte sich sofort in Bewegung und steuerte auf den Eindringling zu. Der Wanderer fasste ihn ins Auge, hob seinen linken Arm und führte eine Schlagbewegung in die Richtung des Dieners aus. Der Diener wurde von einer unsichtbaren Macht getroffen, durch den Saal geschleudert und krachte heftig gegen eines der Gemälde von Ning, das kaputtging und auf ihn herunterfiel, nachdem er auf dem Boden aufgekommen war, wo er regungslos liegenblieb.
Ning starrte verzweifelt auf seine rechte Hand, deren Ringfinger nackt war und die keinen Stab mehr hielt. Er streckte sich nach dem Stab aus, doch sein Arm zitterte und er konnte ihn nicht weit genug ausstrecken. Ning atmete schwer und röchelte. Seine Haut wurde blass.
„Mein lieber Ning“, sprach der Wanderer, „Der einzige Grund dafür, dass du keine Verfehlungen hattest, war, dass dir Mut, Fleiss und Gewissenhaftigkeit fehlten. Darum verlieh ich dir diese drei Dinge, wie ich sie jedem verleihe, der in seinem Dorf als der Beste gilt, um dich zu testen. Du hast von mir bekommen, was du brauchtest, um deinen Charakter in die Welt zu tragen. Und nun hast du Zhēnlĭ wahrlich dein wahres Gesicht gezeigt. Du warst harmlos, nicht gut. Du warst kein guter Mensch, nur weil du zu ängstlich, zu faul und zu unnütz warst, um deine Bitterkeit, deine Egomanie und deinen Neid auszuleben.“
Ning weinte und brüllte zugleich wie ein wütendes Raubtier. Er drehte sich auf den Bauch und streckte sich nach dem Wanderer aus. Er zitterte am ganzen Körper, stöhnte, schrie und schnappte nach Luft. Dann wurde er auf einmal am ganzen Körper grau wie Stein, bevor er auf einen Schlag ganz zu Asche zerfiel. Ein sanfter Wind blies zwischen den Flügeln der Tür hindurch in den Thronsaal, und der Luftzug zerstäubte die Asche und verteilte sie in der Luft, bis sie ganz verschwunden war.
Zihao und die anderen Gefangenen drängten sich an den Gitterstäben und starrten aufgeregt zum alten Dorfkern hinüber.
„Ich bin hier“, sagte da auf einmal eine tiefe Stimme hinter ihnen.
Sie fuhren erschrocken herum. Der Wanderer stand im Käfig, und sein faltiges Gesicht sah ihnen freundlich entgegen. „Es tut mir ausgesprochen leid, was passiert ist. Zhēnlĭ soll nicht länger für diesen misslungenen Test bezahlen.“ Der Wanderer hob beide Hände hoch in die Luft und schloss die Augen. Die Erde begann zu beben. Auf einmal schmolz das Eisen der Gefängniskäfige wie warme Butter und verflüchtige sich in der Luft. Die angefangenen Holzbauten und Steinstatuen zerfielen in winzige Teile und stürzten ein, bevor auch sie sich in Luft auflösten, wie auch Nings Aufseher. Der Boden unter den Füssen der Arbeiter wurde wieder eben und das saftige Gras von früher schoss daraus hervor. Zuletzt stürzte Nings Palast ein und war im nächsten Moment wie vom Erdboden verschluckt. Nachdem sie das Spektakel voller Ehrfurcht betrachtet hatten, wandten sich die Gefangenen wieder dem Wanderer zu.
„Nun denn: Könnt ihr mir sagen, wer der beste Mensch von Zhēnlĭ ist?“, fragte der Wanderer.
Nach und nach wandten sich alle in Zihaos Richtung.
„Er ist es“, gab Jianyu bekannt. „Er ist es.“
Die Umstehenden nickten voller Überzeugung. Wieder stellte der Wanderer seinen Beutel vor sich ab, holte Umhang und Ring hervor, legte Zihao beides an und drückte ihm zuletzt seinen Stab in die Hand. Zihao sah sich den Ring und den Stab fasziniert von allen Seiten an, bevor er dem Wanderer ehrfürchtig in die Augen sah.
Der lächelte. „Ich wünsche euch, dass dieser Test ein weitaus angenehmerer Segen sein möge als der Letzte. Ihr werdet in den kommenden Jahren von reicher Ernte und hervorragendem Vieh zehren können. Auf Wiedersehen.“